Musizieren
als Gehirnjogging von Eckart Altenmüller Musizieren
ist eine der anspruchsvollsten Leistungen des menschlichen Zentralnervensystems.
Die koordinierte Aktivierung zahlreicher Muskelgruppen muss mit höchster
zeitlicher und räumlicher Präzision und häufig mit sehr hoher Geschwindigkeit
geschehen. Dabei unterliegen die Bewegungen einer ständigen Kontrolle durch
das Gehör, durch den Gesichtssinn und durch die Körpereigenwahrnehmung.
Die an die Muskulatur vermittelte Kraftdosierung muss bis in die kleinste Nuance
genau berechnet werden. Ungeheure Mengen an eingehenden Informationen von Millionen
Sinneszellen der Haut, der Gelenke, der Sehnen, der Muskelspindeln, der Augen
und des Gehörs werden ständig ausgewertet und in die Planung der neuen
Bewegungen miteinbezogen. Musizieren setzt voraus, dass die Bewegungen laufend
neu an das gerade entstandene klangliche Ergebnis angepasst werden. Die rasche
Integration der eingehenden Information in den aktuellen Handlungsplan ermöglicht
erst die befriedigende Realisierung eines zentralnervös als Klang- und
Bewegungsvorstellung repräsentierten musikalischen Bewegungsablaufs. Dabei
ist das Ziel des musizierenden Individuums nicht eine mathematisch überpräzise
Wiedergabe, sondern ein durch Affekte modulierter "sprechender" Vortrag,
der Gefühle durch emotionale Kommunikation vermitteln kann. Die
neuronalen Grundlagen dieses Vorganges sind bislang erst in Ansätzen verstanden.
Unbestritten ist, dass Musizieren nahezu alle Hirnareale beansprucht und diese
miteinander vernetzt. Sensomotorische, auditive und visuelle Regionen tragen in
Wechselwirkung mit dem die Emotionen verarbeitenden limbischen System zu dieser
Leistung bei. Die hierarchisch übergeordneten Zentren des Stirnhirnlappens
sind an der Planung und Kontrolle der Bewegungsabläufe, an der Steuerung
der Aufmerksamkeit und an der Auswertung des Bewegungserfolges stets beteiligt.
Voraussetzung für die geordnete und fehlerarme Bewältigung derartig
vielschichtiger Informationsverarbeitungsprozesse ist ein Lernvorgang, das Üben.
Durch Üben werden die sensomotorischen, auditiven und die visuell integrativen
Fertigkeiten erworben, die für die Beherrschung eines Instruments oder für
das Singen notwendig sind. Gleichzeitig werden Gedächtnissysteme angelegt,
strukturell analytische Kenntnisse zur Erfassung eines Musikstücks oder eines
Notentextes erlernt und expressives, emotionales Musizieren geübt. Musizieren
bedarf dabei des viele Jahre dauernden intensiven Lernens, in der auch der Prozess
des Übens selbst ständig reflektiert und optimiert wird. Aber nicht
nur der Erwerb, auch die Erhaltung eines hohen spieltechnischen Niveaus über
die Jahre der Ausbildung hinaus beruht auf ständigem Üben.
Es ist unbestritten, dass Üben und Musizieren bei Kindern und Jugendlichen
die Entwicklung des Gehirns fördert. Musizieren gilt dabei als starker Anreiz
für plastische Veränderungen des Zentralnervensystems. Unter dem Begriff
der Neuroplastizität versteht man die funktionelle und strukturelle Anpassung
des Nervensystems an Spezial-anforderungen, wie sie das Musizieren mit sich bringt.
Plastische Anpassungen treten dann auf, wenn relevante und komplexe Reize über
einen längeren Zeitraum meist unter Zeitdruck verarbeitet werden müssen,
und wenn der verarbeitende Organismus - in unserem Fall das musizierende Individuum
- hoch motiviert ist und unter Umständen sogar Glückshormone ausschüttet.
Neuroplastizität kann in allen Zeitbereichen und Lebensaltern beobachtet
werden und begleitet kurz- und langfristige Lernvorgänge. Die Mechanismen
der Plastizität schließen rasche Veränderungen der Signalübertragung
an den Nervenendknöpfchen (Synapsen) im Sekundenbereich ein, äußern
sich aber auch im Wachstum von Synapsen und Nervenzellfortsätzen (Dendriten),
das Stunden bis Tage dauert. Auch eine verstärkte Bemarkung der Nervenzellfortsätze
mit Beschleunigung der neuronalen Signalübertragung findet als Anpassung
des Nervensystems statt. Dies benötigt allerdings Wochen bis Monate. Das
verringerte (physiologische) Absterben von Nervenzellen, die in die wichtigen
Schaltkreise eingebunden sind, ist ein weiterer langfristiger plastischer Anpassungsvorgang
des Nervensystems. Begleitet werden all diese Veränderungen von einer vermehrten
Bildung von Blutkapillaren, um die aktivierten Nervenzellen mit Sauerstoff zu
versorgen. Darüber hinaus bilden sich Stützgewebe, um die Infrastruktur
des Nervensystems zu verbessern und um die Bereitstellung von Nährstoffen
und den Abtransport von Stoffwechselabbauprodukten zu sichern. Man liegt also
nicht falsch, wenn man die Anpassungen des Nervensystems an geistiges Training
mit den Anpassungsvorgängen der Muskulatur an körperliches Training
vergleicht.
Hier wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung des Autors Eckart
Altenmüller ist Direktor des Institutes für Musikphysiologie und
Musiker-Medizin der Hochschule für Musik und Theater Hannover. Der Text ist
Teil seines Beitrags "Es ist nie zu spät: Zur Neurobiologie des Musizierens
im Alter" in "Musik ein Leben lang" Verband deutscher Musikschulen
2008 |